Thursday, February 17, 2011

''Meine Mutter war der Motor, mein Vater hat gelenkt''

Dschungelkind - Ein Gespräch mit Sabine Kuegler
Sabine Kuegler wurde 1972 in Nepal geboren. Den Großteil ihrer Kindheit und Jugend verbrachte die Tochter deutscher Sprachforscher und Missionare in Papua-Neuguinea, wo ihre Eltern den Eingeborenenstamm der Fayu studierten. In ihrem Buch „Dschungelkind“, das 2005 erschien und zum internationalen Bestseller avancierte, setzt sich Kuegler mit ihrer Jugend im Busch und der schwierigen Rückkehr in die westliche Zivilisation auseinander. Nun wurde ihre Geschichte aufwendig verfilmt. Wir trafen Sabine Kuegler in Berlin zum Gespräch.

Frau Kuegler, welche Gefühle bewegten Sie, als Sie Ihre Geschichte zum ersten Mal auf der großen Leinwand sahen?
Es war sehr berührend. Es war emotional, überwältigend und irgendwie auch hart. Ich war als Ansprechpartnerin in die Arbeit am Film involviert, aber dabei nimmt man gar nicht so richtig wahr, was eigentlich passiert. Und plötzlich sitzt man da und sieht alles vor sich, auch all die kleinen Sachen, die man vorher nicht beachtet hat. Ich werde diesen Moment niemals vergessen.

Weicht der Film manchmal von der Realität ab?
Ja, ganz klar. Ein Film muss einen Spannungsbogen halten, dazu hat man zeitliche Abläufe zusammengelegt und verdichtet. Es wurde eine Liebesgeschichte hinzugefügt, die hätte passieren können, die es so aber nicht gab. Manches musste man auch verändern, um es für den Zuschauer der westlichen Welt verständlich zu machen. Aber es gibt auch viele Szenen, die ganz nah dran an der Realität sind, besonders was die Fayu betrifft. Man stellt sich vielleicht vor, dass alle begeistert, erfreut und neugierig sind, wenn man zu einem solchen Stamm kommt. Aber das war nicht so. Die Fayu sind ein zurückhaltendes Volk. Sie waren sehr distanziert und es hat eine Weile gedauert, bis wir richtig aufgenommen wurden. Dann waren sie allerdings supernett und warmherzig. Ich finde, der Film gibt das sehr gut wieder.

Im Film sieht es so aus, als hätte Ihr Vater die ganze Familie vor vollendete Tatsachen gestellt. In Wirklichkeit war Ihre Mutter auch eine treibende Kraft.
Meine Mutter war diejenige, die immer gesagt hat: „Ich will raus!“. Mein Vater wollte nicht, Mutter hat ihn mitgezogen. Als wir dort waren, war mein Vater auch begeistert. Meine Mutter war der Motor, mein Vater hat gelenkt.

Beherrschen Sie noch die Sprache der Fayu?
Nee. Wenn ich dort bin, kommt sie einigermaßen wieder, aber ich war zu lange weg und habe viel verlernt.

Seit dem Erscheinen Ihres Buches wird die Frage gestellt, ob Fremde in das Leben einen Stammes eingreifen dürfen. Wie sehen Sie das heute?
Ich verstehe es absolut, wenn Menschen den Standpunkt vertreten, dass man diese Leute schützen muss. Aber ich nenne dann gern das Beispiel eines Afrikaners, der gesagt hat: „Vor hundert Jahren seid ihr zu uns gekommen und habt gesagt, wir sollen uns anziehen. Also haben wir uns angezogen. Jetzt kommt ihr wieder und sagt, wir sollen uns ausziehen. Was wollt Ihr eigentlich?“ Der Gedanke, dass wir uns nicht einmischen sollen, ist Blödsinn. Die Leute sollen es selbst entscheiden. Ich habe mit vielen Stämmen zu tun gehabt und mit vielen Leuten geredet. Was diese Menschen letztendlich kaputt macht, ist das Leben, das wir hier in Europa führen. Wir wollen unseren Luxus hier um jeden Preis aufrechterhalten. Ich habe miterlebt, wie Firmen in das Land kamen und die Leute von oben erschossen. Es gibt Korruption, die angefeuert wird, weil wir hier konsumieren wollen, sei es Palmöl, Gold, Diamanten. Wenn wir den Menschen helfen wollen, müssen wir anfangen, hier umzudenken. Wir müssen aufhören, den Regenwald zu vernichten. Die Leute dort müssen selbst entscheiden, was mit ihm geschieht, denn es ist ihr Land. Wir müssen ihnen Bildung ermöglichen, damit sie Lesen und Schreiben können. Wenn ich einem Stamm erzähle, dass wir Deutsche sie alle retten und dafür sorgen wollen, dass sie weiterhin im Urwald leben, ist das für sie der Gipfel der Arroganz. Warum maßen wir uns an zu wissen, was sie wollen?

Der Umgang der Fayu mit dem Tod ist recht gewöhnungsbedürftig. Wie hat das auf Sie als Kind gewirkt?
Wir fanden so eine verwesende Leiche cool und interessant! Aber wir haben das ja nicht jeden Tag gesehen. Die Fayu haben sehr schnell gemerkt, dass wir ein Problem damit hatten. Sie haben es gesehen, wenn wir uns übergeben haben. Sie haben ihre Leichen dann woanders hingebracht. Für solche Dinge hatten sie Verständnis. Man hat es ja von weitem gerochen, wenn irgendwo eine Leiche lag. Dann haben wir eben einen Bogen darum gemacht und gewartet, bis nur noch die Knochen übrig waren. Das geht in den Tropen ganz schnell.

Sie waren zu Beginn der Dreharbeiten mit vor Ort. Hatten Sie Kontakt zu den Darstellern der Fayu, die man aus Papua-Neuguinea eingeflogen hat?
Oh ja! Ich fand mich nicht nur plötzlich teilweise in meiner Kindheit wieder, ich traf auch Menschen, deren Kultur ich teilte. Das war wunderschön, ich habe mich wirklich wieder zurückversetzt gefühlt. Wir haben viel gemeinsam gelacht, es sind sehr herzliche Menschen. Dann wurde ich wieder da herausgerissen. Als ich nach Deutschland zurückkam, habe ich schwer gelitten.

Menschen mit einer interkulturellen Biografie haben häufig Identitätsprobleme. Wie haben Sie solche Schwierigkeiten bewältigt?
Ich habe Vieles durch das Schreiben verarbeitet. Man geht zu sich auf Distanz, sieht sich kritischer. Wenn man sich hinsetzt und über seine Kindheit schreibt, ist man plötzlich nicht mehr man selbst, sondern eine Drittperson. Ich habe Kinder, die hier verwurzelt sind. Ich warte, bis sie groß sind. Und dann ist es mein großer Wunsch, zurückzugehen. Ich bin in Deutschland integriert und ich bin hier auch ganz glücklich. Aber mein Inneres hat nie richtig losgelassen, das merke ich immer wieder, wenn ich zurück bin. Ich will auch gar nicht loslassen. Diese Kultur ist mir sehr nah. Ich will nicht für immer fort, aber ich werde wahrscheinlich pendeln.

Träumen Sie manchmal vom Dschungel?
Oh ja, oft. Ich habe auch noch viel damit zu tun. Ich habe Projekte dort, ich setze mich für den Erhalt der Stämme ein und kämpfe gegen große Firmen. Ich war lange in der Freiheitsbewegung von West-Papua aktiv, ich habe die Studentenbewegung lange Zeit geleitet und unterstützt. Bis heute unterstütze ich soziale Projekte. Ich stehe auch als Beraterin zur Verfügung, wenn es darum geht, eine bessere Entwicklungshilfe zu leisten. So halte ich meinen Kontakt.

Durch dieses Engagement machen Sie sich sicher nicht nur Freunde.
Ich habe viele Feinde.

Werden Sie bedroht?
Ja. In Neuguinea nicht, aber in West-Papua schon. Ich bin dort auch nicht mehr erwünscht. Die Missions-Organisationen wollen mich nicht mehr fliegen, was mich total isoliert. Ich habe gute Freunde dort und halte zu ihnen Kontakt. Aber man hat mir zu verstehen gegeben, dass es für mich nicht gerade ungefährlich sei, dorthin zu gehen. Und solange ich für meine Kinder sorgen muss, werde ich keine großen Risiken eingehen.

Wie normal wachsen Ihre Kinder auf?
Eltern geben Vieles auch unbewusst an ihre Kinder weiter. Ich sehe mich selbst als normale Person an und meine Kinder auch. Aber Leute, die uns näher kennen, sagen, dass unsere Kinder auch schon „anders“ sind. Okay, sie sind in Japan geboren und viel herumgereist, das stimmt schon. Und statt Märchenbüchern haben wir Bücher über Spinnen und Schlangen gelesen. Sie kennen meine Geschichte, aber das ist zu Hause nie ein großes Thema gewesen.

von André Wesche
Bundesstart 17.02.2011

Source: www.nordkurier.de